Džojo.
Ich heiße Džojo. Dass meine Eltern mir einen Namen in Esperanto gegeben haben, einer Sprache, die fast niemand auf der Welt spricht, hat einen Grund: Meine Eltern haben sich dank Esperanto kennengelernt. Sie haben sich in einem Sommer-Esperanto-Kurs getroffen und sich da total verliebt. Sie haben mir erzählt, dass es sofort, beim ersten Date, voll der Hammer war und sie sich geschworen haben, niemals auseinanderzugehen, damit sie dieses Gefühl nie verlieren. Sie wussten, dass es mir auch toll gehen würde, wenn ich mal auf die Welt komme, deshalb haben sie mir diesen tollen Namen ausgesucht. Eigentlich schreibt man das „ĝojo“, aber man spricht es wie in „Jeans“.
Wenn ein Mensch Freude im Namen trägt, meiden ihm die Probleme. Und wenn doch eines auftaucht, ist es schwer, sich darauf zu konzentrieren. Schließlich passiert ständig etwas um einen herum! Die Welt ist voller interessanter Menschen, Katzen haben magische Augen, aus Monstern werden „coole“ Mädchen, im Klassenzimmer lebt eine zwölfbeinige Spinne und die Helden der griechischen Mythen können an einem Nachmittag ihre Biografie umschreiben! Es ist keine Zeit für vernünftige Überlegungen, es ist die Zeit, in der man die Treppen rauf sprinten muss und mit beiden Händen gleichzeitig malen muss. Das ist der richtige Moment, um den ersten Kuss zu bekommen.
Sie hat zwölf! Täusch ich mich oder was? Lass uns das mal nachzählen: ein Paar, zweites, drittes, viertes, fünftes… das da am Kopf könnten Fühler sein. Nee, das sind Beine. Aber sicher bin ich mir nicht. Müsste von rechts gucken, aber Agata breitet sich aus, als ob sie denkt, dass sie, nur weil sie genial ist, die ganze Bank für sich haben darf. Ey, du KI, pass auf, ich schieb dein Heft mal mit dem Ellenbogen weg… noch ein Stückchen… und jetzt schnell das freie Feld besetzen und den Hals strecken, als ob ich Synapse besser hören will. Sie ist in Topform, gestikuliert wild und wechselt dramatisch die Stimme. Sie redet über das, was die Menschen sich unnötig antun. Über die Schrecken des Krieges und verkrüppelte Veteranen. Die ganze Klasse hört ihr aufmerksam zu. Synapse ist echt super cool. Sie könnte locker Schauspielerin sein, bei ihr ist sogar die Beschreibung vom Knopfannähen spannend. Sie macht das wie’n Actionfilm, Horror oder ’ne Zirkusnummer. Sie ist die beste Lehrerin, die wir haben. Ich würde gern Synapse zuhören, aber ich kann nicht, weil mich die Spinne mehr interessiert. Zwölfbeinige Spinne, das ist einfach der Hammer. Wahrscheinlich ist das voll das Original. Einziges Exemplar auf der Welt. Sowas hat noch nie ein Mensch gesehen, ich bin der Erste. Ich bin der Entdecker! Das Vieh kriegt meinen Namen: Dalbych's Spinne. Vielleicht wird sogar eine Straße nach mir benannt oder… oh Mist! Dalbych's Spinne haut ab. Stopp, Alter! Muss dich fotografieren, sonst glaubt mir keiner. Mein Handy ist aus, wie es die Regeln vorschreiben, die Schule und Eltern zusammen beschlossen haben. Ich find’s zwar doof, aber ich bin halt brav und halte mich dran. Außer in besonderen Fällen. Und dieser Fall ist eksterordinara, wie mein Vater sagen würde, wenn er wieder so einen Anfall hat und auf Esperanto loslabert. Ich greife in meinen Rucksack, ziehe mein Handy heraus und schalte es unterm Tisch ein. Wenn ich noch wie früher neben Oskar sitzen würde, wäre das kein Problem, aber neben Agata? Keine Chance. Die Nervensäge weiß nicht nur alles, die kann sogar durch Tische gucken! Echt jetzt! „Was machst du?“ zischt sie gereizt. Wir sitzen jetzt schon zwei Monate nebeneinander, aber ich hab noch nie erlebt, dass sie mit mir in irgendwas einverstanden war. Wenn sie mich nicht mit Worten kritisiert, dann halt mit ihrem Blick. Es reicht schon, wenn ich im Heimatkunde-Unterricht zeichne. Stört niemanden – schon gar nicht die genialen Köpfe. Aber Agata flippt trotzdem immer aus. Dabei zeichne ich echt gut. Der urzeitliche Jäger mit dem Speer ist mir super gelungen, und die Höhlenfrau am Lagerfeuer noch mehr. Oben hab ich sie nicht angezogen, aber damit es nicht aussieht wie auf Seiten, die wir Minderjährigen nicht besuchen dürfen, hab ich sie in ihren langen, dichten Haaren eingewickelt. Das ist episch geworden. Die Künstliche Intelligenz hat trotzdem die Stirn gerunzelt. Ich will ja nicht angeben, aber in Kunst bin ich der beste Fünftklässler – ohne Konkurrenz. Wir hatten zusammen mit der B-Klasse eine Ausstellung, und da hab ich mir das selbst bestätigt. Auf der anderen Seite bin ich wahrscheinlich nicht so gut wie Williamson, der als Wunderkind gilt. Ich hab die Bilder gesehen, die er mit zehn oder elf gemalt hat – und ja, die waren echt krass ausgefeilt. Ich meine, was Perspektive, Schattierung und so angeht. Aber hey, das waren nur Landschaften. Ich finde Landschaften langweilig, ich zeichne viel lieber Menschen, Tiere, Cyborgs, Mutanten, Drachen und andere Kreaturen aus Spielen, die ich kenne, oder aus meiner eigenen Fantasie. Im Gegensatz zu Williamson kann ich mit der rechten und der linken Hand malen, sogar mit beiden gleichzeitig. Aber der hat in meinem Alter schon Millionen verdient. Ich nicht. Abgesehen von der Spielgrafik, die ich für eine schokoladene Walross für Vojta gemacht hab, einen von Oskars Cousins, hab ich bis heute nur vier Bilder auf dem Weihnachtsmarkt verkauft, insgesamt für 200 Kronen. Also bin ich neben Williamson echt eine Null.