
Die Residentur
Der Roman war in der FAZ-Rangliste unter den zehn besten Romanen ihres Genres vertreten.
„Die Residentur – ein bravourös geschriebener Thriller. Ohne zu beschönigen enthüllt Iva Procházková negative Phänomene und Übel, die die moderne tschechische und slowakische Gesellschaft plagen. Ihren genreübergreifenden Roman werden Sie von der ersten bis zur letzten Seite in einem Rutsch verschlingen. Korruption, die bis in die höchsten Etagen der Politik reicht, schmutzige Praktiken von Geheimdiensten, Morde und zweifelhafte Finanzquellen für Wahlkämpfe stehen in schroffem Gegensatz zu den Grundüberzeugungen der Protagonisten, die psychologisch hervorragend gezeichnet sind. Ist der uralte Kampf von Gut und Böse nur eine Phrase, oder hat es auch heutzutage Sinn, sich für die Ideale von Freiheit und Demokratie einzusetzen? Iva Procházková hält für diese Fragen keine wohlfeilen Antworten bereit, sie versucht in ihrem Roman lediglich, präzise das zu benennen, was uns in der Tiefe unserer Seele beschäftigt. Sie zwingt uns, über Dinge nachzudenken, die uns vielleicht schon beherrschen, obwohl wir selbst davon noch gar nichts wissen.
Artúr Soldán, slowakischer Autor, Rechtsanwalt, Literaturkritiker und Kenner des Geheimdienst-Milieus
Braumüller Verlag 2020
übersetzt von Mirko Kraetsch
Er ging durch die Septembernacht… … windig war sie, der Himmel strotzte vor Sternen. Geworg Arojan hob den Kopf nicht, ohne Brille konnte er nicht einmal die Kassiopeia direkt über sich erkennen. Die Hände in den Taschen, den Blick vor sich auf den Boden gerichtet, nahm er wie üblich die Abkürzung zwischen den dunklen Wohnblocks hindurch. Er ging schnell, kein anderes Geräusch als seine Schritte und der Wind in den Bäumen störte die Ruhe des schlafenden Plattenbauviertels. Auch deshalb registrierte er das leise Motorgeräusch, noch bevor das Auto um die Ecke kam. Sofort begriff er, dass es seinetwegen hier war. Was er sich viele Male in Gedanken vorgestellt und wovor er Angst gehabt hatte, geschah nun. Die Stelle war gut gewählt, verstecken konnte er sich hier nirgends. Geworg verlor trotzdem die Hoffnung nicht; er ging in den Laufschritt über. Schockierendes Ende eines Journalisten, schoss ihm die passende Überschrift durch den Kopf. Sofort verwarf er sie wieder. Genau so und genau hier sein Ende zu finden, war nicht schockierend. Die tschechische Metropole bereitete ihn schon lange auf den Tod vor. Praktisch seit dem Moment, als er mit seinem Vater seine Heimat Kasmenien* verließ. Im Atem, in den Bewegungen und im Puls der tschechischen Metropole ließ sich eine Art zielloses toxisches Stereotyp erkennen. Eine Stadt der herumirrenden Seelen, kam es Geworg in den Sinn, als er zum ersten Mal zum Sockel des ehemaligen Stalin-Denkmals hoch über der Moldau hinaufgestiegen war und den Menschen unter sich zusah. In einem der ältesten kasmenischen Schriftzeugnisse ging es um eine Welt, wo die Seelen derjenigen Verstorbenen Zuflucht fanden, die in ihrem Leben nichts besonders Gutes, aber auch nichts extrem Schlechtes getan hatten, womit sie sich ein Anrecht auf einen Platz im Himmel oder in der Hölle erworben hätten. Ihre Verdienste und ihre Sünden wogen sich aus, und dem unbekannten Autor zufolge, der den vorchristlichen Mythos niedergeschrieben hatte, waren diese Seelen nach dem Tod zu einem Dasein in Dormahor verdammt, wo sie endlos im Kreis herumirrten, ohne entkommen zu können. Prag war Dormahor. Hätte Geworg sich vor Jahren aussuchen können, wo er leben wollte, hätte er sich für London, Paris, Madrid oder auch Berlin entschieden. Dort überall gab es aktive kasmenische Communitys. Hätte seine Mutter noch gelebt, hätte sie die Auswanderung nach Amerika durchgesetzt, die USA waren in ihren Träumen das Land, wo Wünsche in Erfüllung gingen. Hätte. „Hätte, könnte, wär, macht dir’s Leben schwer“, sagten die Kasmenier. Und auch die Tschechen wussten: „Mit ‚hätte‘ kommst’ nicht weit.“ Geworgs Vater hatte nicht geträumt, und sollte er jemals irgendwelche Wünsche gehabt haben, dann hatte er sie niemandem anvertraut. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hatte er seinen Sohn mit nach Prag genommen, denn just hier hatte er eine Arbeit gefunden. Und auch als sein Vater gestorben war, blieb Geworg in Prag. Er hatte sich an die ziellose Hast der Stadt gewöhnt, den Status einer herumirrenden Seele angenommen. Der Zeitpunkt, an dem die Sprengladung in die Luft flog und an der russisch-kasmenischen Grenze ein bewaffneter Konflikt entbrannte, hätte für Kasmenien nicht ungünstiger sein können. Die Welt war von Chaos gebeutelt, blutige Auseinandersetzungen nahmen zu, terroristische Anschläge waren zu etwas Alltäglichem geworden. Europa machte eine Existenzkrise durch, hervorgerufen von äußeren und inneren Problemen. Es fehlte ihr nicht nur an Inspiration, sondern auch an Mut, die Probleme anzugehen, und sie hatte nicht die geringste Lust, die Beziehungen zu dem expansiven Imperium im Osten zu verschärfen, mit dem sie vorteilhafte Handelsaktivitäten verbanden und von dem sie energieabhängig war. Das hätte fatale Folgen haben können. Die traten kurze Zeit später dennoch ein. Die Zahl der Flüchtlinge aus anderen Weltgegenden vergrößerte sich um Millionen Kasmenier, die ihr Zuhause und die Kraft in täglichen Ängsten um das bloße Überleben zu existieren verloren hatten. Mit sinkenden Hoffnungen auf Frieden wurde ihr Zustrom immer stärker und löste einen wachsenden Gegendruck aus. … Nach ein paar Schritten war ihm der Gedanke gekommen, dass er vorsichtiger sein und seine übliche Route ändern sollte. Das Nichteinhalten von eingefahrenen Gewohnheiten gehörte zu den selbstverständlichen Regeln, um sich selbst zu schützen, aber dann hatte er es doch nicht getan. Er war müde gewesen, der Wind hatte kalt durch sein leichtes Hemd geblasen. Er wollte so schnell wie möglich zu Hause sein. Das erste Geschoss erwischte ihn am Oberarm, nach dem zweiten Treffer zwischen die Schulterblätter fiel er zu Boden. Die Schüsse waren dank Schalldämpfer kaum zu hören, die Straße war leer, aus keinem Fenster ertönte ein Laut. Nicht ein Bewohner des gigantischen Wohnkomplexes ließ sich durch die nächtliche Begebenheit im Schlaf stören. Geworg begriff, dass er keine Chance hatte – seine Zeit in Dormahor war zu Ende. Ein starker Selbsterhaltungstrieb, den er über zahlreiche Generationen grimmiger kasmenischer Vorfahren geerbt hatte, befahl ihm dennoch, jetzt nicht aufzugeben. Trotz Schmerzen und schwindendem Bewusstsein kroch er mit zusammengebissenen Zähnen auf einen nahegelegenen überdachten Müllplatz zu und wusste doch gleichzeitig, dass er, auch wenn er es bis dorthin schaffen würde, nicht in Sicherheit wäre. Das Auto hielt an, er hörte hastige Schritte und begann das Aboon Dbashmayo aufzusagen. „Wenn du an Ihn glaubst, wird sich der Himmel für dich auftun“, hatte ihm seine Mutter früher immer versprochen. Zum letzten Mal hatte er gebetet, da hatte sie noch gelebt, seit jener Zeit war ihm das Vaterunser kein einziges Mal in den Sinn gekommen. Jetzt konnte er sich ohne die geringste Mühe daran erinnern. Er betete weiter, nach „nehwe sebjonoch“ folgte der dritte Schuss, der direkt auf sein Herz zielte. Und der Himmel tat sich auf. *Fiktiver Name eines Landes, dessen reales Vorbild Staaten sind, die ein ähnliches, mehr oder weniger tragisches Schicksal der Nachbarschaft mit Russland teilen.