Die Rückfahrkarte
Ein Drehbuch über den Krieg, die Trennung der Familien, die Vertreibung der Deutschen. Vor allem geht es um eine starke Liebesgeschichte im Kessel historischer Umwandlungen.
Die Hauptfiguren: Eine ältere Frau namens Heda und ein alter Mann Martin.
Er ist Deutscher, sie Tschechin. Er mußte 1945 als neunzehnjähriger mit anderen Deutschen seine Heimat, die Tschechoslowakei, verlassen, sie durfte bleiben. Was die beiden ihr Leben lang verbindet, ist nicht nur die gemeinsame Kindheit, sondern eine tiefe Beziehung.
Die Rückfahrkarte erzählt die Geschichte einer nie erfüllten Liebe auf dem Hintergrund der großen historischen Ereignisse des zwanzigsten Jahrhunderts.
Tulín – Obstgarten, Schloss – Tag (Jahr 1938)
Martin steht im Garten des Häuschens unter dem Schlossberg. Auf den Händen. In einer perfekten Handstandposition. Ohne sich auch nur einen Zentimeter zu wackeln. Schielt heimlich auf Heda. Das Mädchen sitzt auf einem Baum, isst die reifen Kirschen und schaut in die Ferne. Sie bemerkt Martin nicht. Martin hebt eine Hand, schiebt sie ein paar Zentimeter nach vorne. Dann die andere. Er geht langsam im Handstand, vorsichtig, ohne Schwankungen. Plötzlich trifft ihn etwas am Bein. Er zuckt leicht zusammen und wirft Heda einen misstrauischen Blick zu. Das Mädchen sieht immer noch genauso verträumt aus. In einem weißen Sommerkleid sieht sie ein wenig wie ein Engel aus, der für einen Moment auf einem Ast sitzt, um seine müden Flügel auszuruhen.
Martin wendet seinen Blick ab. Macht noch zwei Schritte. Dann trifft ihn eine Kirschfrucht direkt ins Gesicht.
„Wart mal, Heda!“ ruft er aus. Sofort steht er auf. „Das wirst du noch bereuen!“
Er klettert auf den Baum. Als er oben ist, springt Heda elegant hinunter. Sie richtet sich geschmeidig auf und läuft zum Haus, aus dem gerade Martins Vater kommt.
„Wohin geht ihr, Vater?“ fragt Heda und ergreift seine Hand.
Sie weiß, dass sie in seiner Nähe vor Martin sicher ist.
„Zum Schloss,“ sagt der Vater. „Herr Goldmann möchte mit mir sprechen.“
„Darf ich mitkommen?“
„Komm mit.“
Sie gehen gemeinsam den staubigen Weg hinauf. Martin springt vom Kirschbaum. Er folgt ihnen langsam. Als er beim Schloss ankommt, ist der Vater schon drinnen. Heda sitzt in einer Netzschaukel vor den Fenstern.
„Du kannst mich schaukeln,“ bietet sie ihm großzügig an.
Martin schaukelt sie kräftig. So wild wie möglich. Dann stellt er seinen Hintern ein und schlägt mit voller Kraft zu. Noch einmal. Er schlägt Heda mit seinem Hinterteil, das – wie bei den meisten Jungs in diesem Alter – hart und knochig ist.
Plötzlich hört er etwas. Leise läuft er zum Schloss. Duckt sich am offenen Fenster, hinter dem die Stimme seines Vaters zu hören ist.
„Ich arbeite schon seit zwölf Jahren für Sie,“ sagt der Vater stolz. „Ich denke, dass Sie nie einen besseren Verwalter hatten.“
„Deshalb möchte ich es gerade von Ihnen,“ antwortet Goldmann.
Als Martin den Hals leicht ausstreckt, sieht er die Hälfte des Zimmers. Eine Standuhr aus dunklem Holz. Ein Stück grünes Sofa. Ein runder Tisch mit zwei Sesseln. Der Vater und Goldmann sitzen in den Sesseln.
„Hier in Böhmen wird es von schlecht zu schlechter,“ fährt Goldmann fort.
Er hat ein typisches jüdisches Profil. Ausgefallene Augen.
„Ich werde nicht darauf warten. Mein Schwager lädt uns nach Kanada ein. Ester hat dort die ganze Familie. Sie werden sich eine Zeit lang um uns kümmern. Bis sich die Lage in Europa beruhigt.“
„Wenn ihr mir den Hof verpachtet und es dann schiefgeht, holen wir uns beide den Dreck ab,“ entgegnet der Vater ruhig. Hinter der äußeren Ruhe spürt Martin jedoch seine Nervosität. Der Vater hat einen genauen Plan.
„Wer würde sich zurückhalten, wenn es um das Eigentum eines Juden geht, der irgendwo hinterm Meer hockt, nicht wahr? Und es ist das größte Gut und das beste Land weit und breit!“
„Greifen wir danach,“ nickt Goldmann düster.
Der Vater beugt sich leicht nach vorn. Der Blick fest auf Goldmanns Gesicht gerichtet.
„Verkaufen Sie,“ sagt er leise. Fast unhörbar.
Goldmann hat jedoch große, haarige Ohren. Außerdem ist ihm schon eine Weile klar, wohin der Vater steuert. Er kennt ihn. Ihre Gedanken sind sich sehr ähnlich.
Er steht auf, öffnet den oberen Teil des Sekretärs. Jetzt sieht Martin nur noch die Hälfte seines Rückens. Den ausgestreckten Ellbogen.
„Glaubst du, er verkauft?“ flüstert Heda. Sie hockt sich neben Martin am Fenster, ihre Augen weit geöffnet vor Aufregung.
„Pssst!“ zischt Martin. Er schaut wieder in den Raum.
Goldmann gießt einen Schnaps in zwei kleine Gläser. Trägt sie zum Tisch. Reicht eines dem Vater. Der Vater steht auf. Sie stoßen an. Beide schnuppern an den Gläsern. Sie kippen den Schnaps herunter. Atmen aus.
„Also verkaufen, sagen Sie?“ wiederholt Goldmann. „Und was, wenn sich alles beruhigt?“
„Es wird sich nicht von selbst beruhigen,“ entgegnet der Vater. „Es kommt aus Deutschland. Die Deutschen haben ein schweres Hinterteil. Aber wenn sie es einmal heben, setzen sie sich nicht so schnell wieder hin.“
„Das müssen Sie wissen,“ zuckt Goldmann mit den Schultern. „Es ist Ihr Blut, Berthold.“
„Deshalb sage ich, verkaufen Sie. Das ist das Vernünftigste, was Sie tun können.“
„Und Sie kaufen es.“
„Ich kaufe. Sie wissen genau, dass ich nie viel hatte. Nach Lottis Tod blieben mir nur Schulden. Jetzt habe ich eine Brennerei geheiratet. Ich will sie nicht. Es gibt an jeder Hand zehn Interessenten. Aber ich will Land. Dieses Land. Weil ich es kenne. Und dieses Haus. Weil es mir von klein auf Erfolg bedeutet. Reichtum. Leben auf einem hohen Niveau.“
Goldmann sieht ihn intensiv an.
„Und was, wenn ich eines Tages zurückkehren möchte?“
Der Vater schüttelt den Kopf. Mit tiefster Überzeugung.
„Von dort kehrt niemand zurück,“ sagt er. Als hätte er in dieser Hinsicht reiche Erfahrungen. „Entweder wird man Millionär, oder man geht pleite und schießt sich in den Kopf.“
Goldmanns Augen weiten sich noch mehr. Dann lacht er plötzlich laut und schallend.
„Sie sind ehrlich!“ ruft er aus. „Zumindest sagen Sie, was Sie denken!“
„Es hat sich immer für mich ausgezahlt – bisher.“
Die Kinder schleichen sich vom Fenster weg. Um die Ecke.
„Was denkst du, verkauft er?“ fragt Heda.
Martin schaut sich um. Plötzlich sieht er das Schloss und die Umgebung mit anderen Augen. Mit den Augen eines potentiellen Besitzers. Das gibt ihm Selbstvertrauen.
„Wenn er verkauft,“ breitet er die Beine aus und hebt einen Stein vom Boden, „werde ich auf den Taubenschlag klettern!“
Er schwingt den Arm aus und wirft den Stein in Richtung Taubenschlag. Der Stein fliegt kaum bis zu den Fenstern im ersten Stock. Über denen der Taubenschlag in bedrohlicher Höhe zu stehen scheint.
„Es ist viel zu hoch,“ misst Heda den Taubenschlag skeptisch mit den Augen. „Bis ganz nach oben wirst du nicht kommen.“
„Ich werde es schaffen. Wetten!“
Martins Selbstbewusstsein ist grenzenlos.
„Worauf?“ fragt Heda.
„Auf einen Kuss,“ ruft Martin schnell. „Aber einen richtigen!“
Heda schaut noch einmal auf den Taubenschlag. Es scheint, als würde sie abwägen, ob sie die Wette gewinnen könnte. Der Taubenschlag ist wirklich hoch. Martins kleine Figur unten wirkt winzig. Heda schüttelt misstrauisch den Kopf.
„Das muss ich mit eigenen Augen sehen,“ sagt sie.
Tulín – Schloss – Abend (1938)
Ein Herbstabend, einige Monate später.
Heda in Nachthemd lehnt sich aus einem der Schlossfenster. Sie starrt angespannt auf das Dach des gegenüberliegenden Flügels. Dort blitzen Martins Unterhosen auf. Er hat bereits den First erreicht. Ein paar Sekunden ruht er. Dann stellt er sich auf und läuft zur Basis des Taubenschlags. Der Taubenschlag erhebt sich wie ein Kirchturm vom Dach. Der Junge beginnt geschickt an den Latten und Balken hinaufzuklettern. Der leichte Schlaf der Tauben ist sofort vorbei. Sie beginnen zu gurren. Ihre Köpfe erscheinen in den runden Löchern. Einige fliegen hinaus, kreisen um Martin. Sie sind freundlich; sie setzen sich auf seine Schultern, in sein Haar, reiben ihre Flügel an seinem Gesicht. Mehrmals muss er nach ihnen schlagen. Einmal verliert er fast das Gleichgewicht. Im letzten Moment kann er sich festhalten. Und klettert weiter.
Heda beobachtet jede seiner Bewegungen mit außergewöhnlicher Aufmerksamkeit. Ihre Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt, sie sieht sogar die Bewegungen der Taubenflügel und Köpfe. Martin bleibt nur noch ein Meter. Er packt sich den Balken unter dem Dach des Taubenschlags. Und zieht sich langsam nach oben.
Doch Heda wartet nicht, bis er sich triumphierend zu ihr dreht. Sie schließt leise das Fenster. Schlupft ins Bett. Mit einem Lächeln schließt sie die Augen. Sie ist noch wach, als Martin an ihre Tür klopft.
„Heda!“ hört sie seine leise Stimme aus dem Flur.
„Mm...hmm,“ tut sie so, als ob sie erwachen würde.
„Was ist?“
„Ich bin da hoch geklettert!“
„Wohin?“
„Auf den Taubenschlag!“